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Bericht einer Witwe, die beim Grubenunglück in Borken ihren Mann verloren hat.
Titel: "Der 1. Juni 1988: Bis daß der Tod Euch scheidet".
(veröffentlicht in: Arbeitsgruppe Stolzenbachhilfe (Hg.): Nach der Katastrophe. Das Grubenunglück von Borken. Ein Erfahrungsbericht über drei Jahre psychosoziale Hilfe. Vandenhoek&Ruprecht, 1992)


Es war vor 4 Jahren, oder war es gestern? Noch immer habe ich den Geruch verbrannter Kohle in der Nase, wenn ich daran denke. Am 1. Juni 1988. Es war gegen 13.00 Uhr, als ich nach vielen Bemühungen den Zechenhof betreten durfte.

Ich habe Angst, Angst vor dem, was mich hier erwartet. Angst! Alles, was ich weiß, ist: Eine Explosion. Wie kann das sein? Er hat mir doch immer gesagt, so etwas passiert nur im Steinkohleabbau. Niemals hier bei uns. Worte fallen mir ein, Sätze, die er einmal gesagt hat. »Lkw-Fahren ist gefährlicher.«

Ich weiß, daß ihm nichs passiert ist, weil er viel von seinem Beruf versteht, weil er stark ist und erfahren und weil er für alles immer eine Lösung findet. Irgendwie. Ich laufe herum und suche ihn. Als ich den Kollegen treffe, der in dieser Woche mit ihm zusammenarbeitet, fällt mir ein Stein vom Herzen, und ich laufe zu ihm hin. Er dreht sich langsam zu mir um, und ich sehe in sein Gesicht. Er braucht mir nichts zu sagen, ich weiß es auch so. Er ist noch unten. Ziellos laufe ich hin und her, um jemanden zu finden, der mir etwas genaues sagen kann, aber man weicht meinem Blick aus und geht an mir vorbei.

»Wir haben einen Raum hergerichtet für die Angehörigen, dort können Sie sich setzen und warten« sagt irgend jemand. Ich versuche es, fünf Minuten oder zehn. Man kann nicht sitzen und warten. Vielleicht gibt es irgendwo eine Schaufel zum Graben. Ich muß doch etwas tun können. Irgend etwas, um ihn dort unten herauszuholen, ihm zu helfen. Er kann verletzt sein und mich brauchen, oder frieren. Eine Decke müßte ich ihm bringen können. Daß er lebt, daran glaube ich ganz fest. Wenn man sich liebt, dann spürt man, wenn der andere stirbt.

Und wir lieben uns.

Seit achtzehn Jahren, als wir uns versprachen, einer ist für den anderen da in guten und in schlechten Zeiten, bis daß der Tod uns scheidet. Und jetzt laufe ich herum und kann nichts, gar nichts für ihn tun, nur warten. Warten. Nach und nach kommen noch andere Frauen, Angehörige, Mütter und Väter, Söhne und Töchter. Gesichter, in denen Ruß und Tränen Spuren hinterlassen haben. Ich halte Hände von Leuten, die ich nicht mal kenne und ich spüre, daß mir das gut tut. Zu zweit weint es sich leichter, doch der Stein, der auf dem Herzen liegt und der Kloß im Hals werden auch vom Weinen nicht kleiner.

Neben mir steht eine junge Frau, die mir bestimmt zum zehnten Mal erzählt, daß sie doch bald heiraten will.

Überall sind Fotografen auf der Jagd nach verzweifelten Menschen, um möglichst »gute« Fotos zu machen. Auf der Flucht vor ihnen gehe ich wieder in den Raum fürdieAngehörigen. Hier istes noch schlimmer. Viele weinen. Türkische Frauen klagen laut ihren ganzen Schmerz heraus. Ich versuche zu trösten und spüre, daß meine Worte für mich selbst bestimmt sind. Nur nicht aufgeben!

Irgendwann wird es offiziell. Der Betriebsleiter gibt uns einen Bericht über die Rettungsarbeiten. Voller Hoffnung hören wir zu, aber plötzlich redet er von Toten, die man gefunden hat und daß die Chance, Lebende zu finden, gleich Null ist. Lange brauche ich, um zu begreifen. Ganz langsam wird mir kalt und übel und ich will zur Toillette, um mich zu übergeben, aber meine Beine bewegen sich nicht mehr. Gedanken schießen mir durch den Kopf. Bilder aus den letzten 18 Jahren.

Mein halbes Leben habe ich mit ihm verbracht, geliebt, gelacht und geweint. Er darf nicht tot sein! Man will mich nach Hause bringen, es sei schon spät, und ich müsse an meine Kinder denken, die mich brauchen. Ich lasse mich heimfahren, um dort zu warten mit der Familie. Wir haben gewartet, gebetet und verzweifelt gehofft. Mehr als drei Tage lang. Mehr als 80 Stunden, bis ich ihn sehen durfte:

Am Samstag, den 4. Juni 1988 um 23.00 Uhr...

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