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Zum Thema Grubenunglück Borken 1988:
Katastrophenopfer: Wenn Trauer krank macht

Geteiltes Leid ist längst noch nicht halbes Leid
Ein Pilotprojekt hilft, den Hinterbliebenen des Grubenunglücks in Borken, mit 
dem Schmerz zu leben

Von Claudia Wessel

Borken, im April - Eine frische rosa Rose liegt über dem Schriftzug: Hans-Jürgen 
Specht. Eingehüllt in Schleierkraut, den Stengel in einem Wasserröhrchen, 
leuchtet ihre vom Nebel feuchte Blüte auf dem Bronzering. Mehr als 100 Namen 
sind darin eingraviert - die der Bergmänner, die in der Grube Stolzenbach seit 
deren Eröffnung im Jahre 1922 ihr Leben verloren. 51 von ihnen sind Opfer des 
Grubenunglücks vom 1. Juni 1988. "Die Toten sind Teil unseres Lebens, so wie 
jeder Teil der Natur dem Leben dient. Vergänglichkeit Ist unser aller irdisches 
Los und doch ist das Leben nicht mit dem Tode des einzelnen beendet." Die 
Inschrift auf dem Ring schließt den Kreis zwischen den "alten" und "neuen" 
Toten. Im Hintergrund erinnern in eine Sandsteinwand eingehauene Motive an die 
Gefahren des Bergbaus. Die heilige Barbara hält schützend ihre Hand über einen 
Verschütteten. Das ist kein Zynismus angesichts des  Erstickungstodes der 51 vor 
fast fünf Jahren, sondern gezielte Therapie.

"Doch, die Rose war von mir", sagt Erika Specht später. Trotzdem wäre sie an 
diesem Morgen, nur vier Tage nach ihrem letzten Besuch,  am liebsten wieder mit 
zum Denkmal gekommen. Georg Pieper, der die Witwe seit mehr als vier Jahren 
psychologisch betreut, wundert sich immer wieder selbst über den Erfolg seiner 
Arbeit, der ihr dieses Verhalten ermöglicht. Erika Specht kann er mittlerweile 
in  die "siebte Phase der Trauerbewältigung" einordnen: "Die Auseinandersetzung 
mit dem Unglück ist abgeschlossen. Die Erinnerungen können hervorgeholt und 
aktiv beiseitegestellt werden." Nur deshalb war sie auch - nach einigem Zögern - 
bereit, die Reporterin zu empfangen: mit immer noch zittrigen Händen, ein 
Taschentuch darin zerknüllt, und feuchtem Schimmer in den Augen. Aber bereit, 
ihren Mann und die Umstände, unter denen sie ihn verlor, zu beschreiben.

"Er war lustig und ist gerne Bergmann gewesen." Nie versäumte er, wenn er um 
fünf Uhr morgens zur Schicht ging, seine Frau zu wecken und mit einem Kuß zu 
verabschieden. Auch nicht am 1. Juni 1988. "Tschüss, Eri, bis nachher." Doch an 
diesem Tag gab es kein Nachher. "Das war ein ganz schlimmes Gefühl, als ich auf 
dem Zechenhof stand. Am liebsten hätte ich alle Leute angeschrien. Es war ein 
schreckliches Hoffen und Verzweifeln." Die Gesichter und Menschen, die hin und 
her liefen, die Grubenwehr, die Ärzte und dazu die hektische Betriebsamkeit über 
allem: "So stelle ich mir den Krieg vor."

Von Mittwoch bis Samstagabend musste sie warten, bis sie die Todesnachricht 
erhielt. Dazwischen lagen Tage und Nächte, die sie völlig apathisch verbrachte, 
neben dem Telefon auf dem Sofa lag, weder aß noch trank. Dazwischen lag auch der 
Samstagmorgen, an dem sechs Bergleute überraschend gerettet wurden. "Es war 5.30 
Uhr, als ich die Nachricht im  Radio hörte. Ich habe alle geweckt und geschrien: 
Er lebt! Erst ein Telephonat mit der Schwägerin, die vom Videotext die Namen der 
Geretteten vorlas, ernüchterte Erika Specht. Trotzdem - wenn sechs gerettet 
waren, warum nicht auch er? Die Turnhalle von Borken lag bereits voller Toter, 
Hans-Jürgen Specht war nicht dabei. Die Hoffnung blieb, bis um 23 Uhr das 
Telephon klingelte. 

"Niemals hätte ich am Anfang mit jemandem darüber sprechen können, der nicht 
selbst betroffen war." Jetzt fließen die aufgestauten Tränen, die ihre Erzählung 
immer wieder unterbrechen, doch das Bild des Toten in der Leichenhalle darf 
hochkommen. "Alles war voller Notbetten für die Leute, die zusammengebrochen 
sind. In der Mitte des Raumes stand ein Sarg. Da lag er drin. Er sah aus wie 
immer, als läge er auf der Couch. Ganz gelöst, ohne Schmerzen. Nur auf der Nase 
und auf dem Kinn hatte er Kratzer von seinem Sturz. Ich habe vor dem Sarg 
gekniet und wollte ihn so gerne anfassen. Aber ich hatte Angst vor dem Gefühl, 
dass er ganz kalt ist..." Sie fürchtete auch, ihn zu vergessen, sein Bild aus 
ihrem Gedächtnis zu verlieren. Das geschah nicht. "Ich weiß noch genau, wie sich 
sein Haar zwischen meinen Fingern angefühlt hat, als wäre er heute 
morgen gegangen."

"Traurigkeit kann gelebt werden, neuer Lebenswille wächst." Die "siebte Phase 
der Trauerbewältigung" hat Erika Specht nicht aus eigener Kraft erreicht, 
sondern durch das "Hilfsprogramm zur gesundheitlichen Betreuung der Betroffenen 
des Grubenunglücks in Stolzenbach bei Borken". Als Katastrophen-Nachsorge 
bundesweit noch immer einmalig, bot es vor allem in Form von psychologisch 
angeleiteten Gruppen vier Jahre lang intensive psychosoziale Hilfen - für die 
Angehörigen der Toten ebenso wie für die acht Verletzten und sechs Geretteten. 
Mittlerweile haben die Helfer der "Arbeitsgruppe Stolzenbach" sich "überflüssig 
gemacht" - ganz im Sinne erfolgreicher Psychotherapie. Das Hilfsprogramm gilt 
als beendet, ein detaillierter Bericht liegt das Buch vor.

Der Erfolg spricht für das Pilotprojekt, das vor vier Jahren federführend von 
dem Marburger Psychosomatiker Professor Wolfram Schüffel entwickelt wurde. Eine 
erfolgreiche Verarbeitung des Borkener Unglücks und seine Folgen diagnostizierte 
die Arbeitsgruppe Stolzenbach bei 76 Prozent der 77 Betroffenen, die an der 
Gruppenarbeit teilnahmen - davon 30 deutsche Witwen und 22 Mütter und Väter 
sowie die über acht über Tage Verletzten un die sechs Geretteten. Ihnen allen 
gelang es, die sogenannte "Post Traumatic Stress Disorder" (PTSD), eine 
Fehlentwicklung der Verarbeitungsprozesse durch Unterdrückung von Trauer, zu 
vermeiden.

Wie es ohne die Hilfe von außen heute in Borken aussehen könnte, das zeigen nach 
Meinung von Schüffel und Georg Pieper, der in den vier Jahren der Hauptbetreuer 
für die Hinterbliebenen war, die Folgen anderer Katastrophen, etwa der von 
Radevormwald vom Mai 1971: Bei dem Zusammenstoß eines Schienenbusses mit einem 
Güterzug starben 41 Kinder und fünf Erwachsene, fast alle aus dem 22.000 
Einwohner zählenden Städtchen.

17 Jahre später, wenige Tage vor dem Grubenunglück von Borken, kommt ein 
Journalist der Zeit in den Ort. Das Ergebnis seiner Recherchen ist 
niederschmetternd und für die Angehörigen der Arbeitsgruppe Stolzenbach Warnung, 
es niemals so weit kommen zu lassen: "Siebzehn Jahre später leider die 
Betroffenen seelisch und körperlich noch immer an der Katastrophe", berichtet 
der Reporter. "Die gemeinsame Leidenserfahrung hat die Menschen einander nicht 
näher gebracht. Statt  Freundschaften entstanden - von einigen Fällen angesehen 
- Feindschaften. Gräben brachen auf zwischen den Familien Überlebender und den 
Eltern getöteter Kinder... Unter der scheinbar ruhigen Oberfläche des 
kleinstädtischen Alltags brechen die Konflikte auf, sobald man daran rührt." Die 
Hinterbliebenen leiden auch 17 Jahre später noch an zahlreichen gesundheitlichen 
Störungen: Mehrere Väter im Alter zwischen 49 und 60 Jahren starben innerhalb 
von fünf Jahren an Herzinfarkt oder Krebs.

Das gleiche Bild zeigte sich Schüffel vor wenigen Wochen bei einem Besuch in 
Aberfan, einem kleinen Ort bei Cardiff, in dem 1966 ein Schutthalde auf eine 
Schule stürzte und 140 Kinder und 20 Lehrer unter sich begrub. "Viele Formen 
pathologischer Trauer" habe er dort gesehen, berichtet der Psychosomatiker, 
Menschen, die immer und immer wieder mit ihrem Schicksal haderten und sich 
fragten: Wen habe ich verloren? Auch somatisch mache sich der unverarbeitete 
Verlust noch immer bemerkbar: Hinterbliebene litten an den Katastrophenfolgen 
von verzögerter Wundheilung bis hin zu Krebs.

"Das ist eben der Unterschied zum individuellen Sterben", erläutert Schüffel. 
"Das Leiden daran wird zur Epidemie."  Auch in Borken gab es ähnliche Fälle. So 
etwa starb unerwartet der Großvater eines getöteten jungen Mannes. 
Betriebsangehörige, die sich verantwortlich fühlten, litten unter 
Gesundheitsstörungen. Durch die gezielte Bearbeitung konnten jedoch 
Langzeitfolgen vermieden werden. Schon zwei Jahre reichen nach Schüffels 
Erfahrung aus, um den Trauerprozeß in die richtigen Bahnen zu lenken. Die 
Gruppenarbeit hat Freundschaften entstehen lassen. Die Geretteten müssen bei der 
Begegnung mit einer der Witwen nicht mehr - wie anfangs - auf die andere 
Straßenseite ausweichen.

Trotz der Vorreiterrolle, die die Arbeitsgruppe Stolzenbach mit ihrem 
Hilfsprogramm einnimmt, weist sie einen Modellcharakter von sich: "Wir wollen 
weder eine Theorie der psychosozialen Katastrophenhilfe entwickeln, noch eine 
Gebrauchsanweisung für zukünftige Hilfen im Katastrophenfall liefern. 
Patentrezepte gibt es nicht." Wie tief auch die Helfer in den Strudel der Trauer 
hineingerissen werden, das wurde Schüffel bei der Gedenkfeier zum ersten 
Jahrestag der Grubenexplosion bewusst: 51 Kerzen waren seinerzeit im Bürgerhaus 
nacheinander entzündet worden, für jeden Toten eine. "Wir schauten immer wieder 
auf die Flammen und waren in großer Angst, daß eine von einem Windhauch gelöscht 
werden könnte." An diesem Abend, erinnert sich Schüffel, mußte er sich trotz der 
Temperaturen eines Frühsommerabends in sechs Decken hüllen, um ein plötzliches 
Frösteln in den Griff zu bekommen.
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